Winter-Auswilderung — der entscheidende Irrtum

Die unten eingelinkte britische Studie wurde kürzlich von Pro-Igel im Bulletin vorgestellt. Die Studienverfasser präsentieren Überlebenszahlen von Igeln nach einer Auswilderung im Winter in Großbritannien. Als Fazit der Überlebenszahlen bemerken sie, dass eine Auswilderung im Winter in Phasen milden Wetters (in England) durchaus möglich sei. Dieser Empfehlung hat sich Pro-Igel im Bulletin-Artikel angehängt und befürwortet oder empfiehlt gar eine Freilassung genesener und mindestens 650g schwerer Igel im Winter auch für Deutschland.

Wir halten diese Folgerung für völlig falsch und undurchdacht und stellen uns ausdrücklich gegen eine Winter-Auswilderung von Jungtieren!

Die Studie und ihre Ergebnisse

Von 57 Igeln — 34 ehemalige Päppeligel und 24 wilde Igel — hatten zwei ihre Sender verloren und so verfolgte man vier Jahre lang per Sender 55 Igel an fünf Orten in Großbritannien über vier Winter (2010-14) jeweils rund 130 bis 160 Tage hinweg. Dabei war der Großteil der wild lebenden Tiere adulte (=erwachsene, über ein Jahr alte) Igel (17 ggü. 6 Jungtieren aus demselben Jahr). Bei den Winterauswilderungen war das Gros Jungtiere aus dem selben Jahr (31 ggü. nur 3 erwachsenen Tieren).

Von allen betrachteten Igeln haben 36 Igel die Studiendauer sicher überlebt, wurden also am Ende der Beobachtungszeit lebend wiedergefunden. Das ist eine Überlebensrate von 63 %.

Sieben Tiere (davon vier Wilde, drei ausgewilderte) waren gesichert verstorben, das sind 12 % der ursprünglichen 57 Tiere. Die Todesursachen waren bei den wilden Igeln Straßenunfälle (drei = 43 % der Verstorbenen) bzw. Unterernährung (einer = 14 %). Die drei im Winter ausgewilderten Igel (43 %), die tot aufgefunden wurden, waren Dachsen zum Opfer gefallen. Das erscheint zunächst einmal positiv, denn damit läge die Sterberate der Wildigel mit 4/24 = 17 % sogar höher als die der ausgewilderten Igel mit 3/34 = 9 %.

Allerdings: Über das Schicksal der übrigen 14 Igel (= 25% der 57 Tiere zu Studienbeginn) konnten keinerlei Aussagen gemacht werden, da sie ihre Sender verloren hatten oder schlicht nicht mehr gefunden wurden. Dies betraf 3 wilde und 11 ausgewilderte Igel. Das bedeutet, dass erheblich mehr der ausgewilderten Igel aus dem Blickfeld der Studie „verschwanden“ als der wilden Igel, nämlich mehr als doppelt so viele: 32 % der ausgewilderten Igel wurden nicht mehr aufgefunden, von den wilden Igeln betraf dies nur 12,5 %. Die Gründe können in Abwanderung liegen, aber natürlich auch im Versterben der Tiere. Was wie stark vorgekommen ist, ist dabei reine Spekulation: Sind mehr Päppeligel weithin abgewandert und konnten daher nicht gefunden werden? Oder sind nicht eher sehr viel mehr der Winter-ausgewilderten Igel Dachsen zum Opfer gefallen und dabei (samt Sender) komplett zerlegt worden oder in Dachsbauten unauffindbar abgelegt?

Zur Verdeutlichung ein Rechenbeispiel: Wären beispielsweise alle „verlorenen“ Igel gestorben, würde die Todesrate bei den ausgewilderten Igeln auf katastrophale 58 % klettern gegenüber „nur“ 20,5 % bei den Wildigeln. Wie gesagt, es ist reine Spekulation, was mit den verloren gegangenen Igeln passiert ist, deshalb verbietet sich eine solche Auswertung. Die Überlegung macht aber eben auch ganz deutlich, wie problematisch es ist, die Studienergebnisse dahingehend zu interpretieren, eine Winter-Auswilderung haben keine Nachteile für die ausgewilderten Tiere!

Und schließlich: Ganz grundsätzlich liegt in der geringen Anzahl an Tieren — pro Ort und Winter waren die betrachteten Gruppen nur 2 (!) bis 12 Tiere stark — sowieso ein Problem. Die Studien-Autor*innen haben ohne Zweifel einen enormen Aufwand betrieben. Dennoch ist es einfach sehr gewagt, statistische Aussagen zu treffen, wenn von einer eh schon nur überschaubaren Anzahl an „Probanden“ auch noch ein Viertel „ergebnislos“ aus der Studie ausscheidet.

Die Empfehlung, im Winter auszuwildern ist daher für uns nicht im Mindesten nachvollziehbar — und auch die Überlegungen nicht, mit denen man die Empfehlung begründet, nämlich die laut Studienautoren vergleichbar gute (bzw. schlechte) Überlebensrate der im Winter ausgewilderten Igel mit der der betrachteten wilden Igel des jeweiligen Gebietes.

Denn es ist gar nicht verwunderlich, das sagt die Studie selbst auch aus, dass sie überleben konnten: Die Tiere wurden um die 0° Grad Außentemperatur herum ausgewildert. Es ist klar, dass ein Igel dann nicht mehr lange aktiv ist, sondern sich ein Nest baut, was seinem Instinkt entspricht, und sich in den Winterschlaf begibt. Es ist keine Kunst, zu überleben, wenn man in einem sicheren Nest monatelang schläft.

Die Studie besagt aber weiter, dass die meisten Igel dann im Frühjahr Opfer wurden im Straßenverkehr oder getötet wurden von Dachsen.

Und genau DAS ist doch der springende Punkt!

Diese im Winter ausgewilderten Igel wachten witterungsbedingt zu einem gewissen Zeitraum auf, wie hier in Deutschland oft im März — wie ihre „wilden“ Kumpane auch. Jedoch mit dem Unterschied, dass die ausgewilderten Igel sich in dem für sie ja neuen Gebiet nicht auskannten: Sie kannten keine Nahrungsquellen dort und die Natur war noch nicht belaubt und bot somit keinerlei Schutz und Deckung. Eine doppelte gefährliche Situation für Igel in einem fremden Gebiet, das sie zunächst — getrieben durch winterschlafbedingte Dehydrierung und Hunger — unter Hochdruck erkunden müssen.

Eigentlich wollte man mit der Studie belegen, dass gepflegte und in einem Haushalt bzw. einer Päppelstation aufgezogene Igel den wilden Igeln in nichts nachstehen.

Aber genau das stimmt doch überhaupt nicht!

Wenn 63% überleben und ein Großteil anschließend sofort im Straßenverkehr oder von Fressfeinden wie Dachsen getötet wird, wie viele Igel haben es am Ende dann wirklich geschafft?

Wir raten dringend von Winter-Auswilderung ab

Unsere überwinterten Igel werden erst zu einem Zeitraum freigelassen, in denen die Nachttemperatur über 8 Grad ist und damit natürliche Nahrung vorhanden ist — und gleichzeitig die Natur bereits soweit belaubt ist, dass sie Schutz und Deckung bietet. Genau das ist eben nicht zu dem Zeitpunkt der Fall, wenn hier im März schon die ersten wilden Igel unterwegs sind.

Mein Fazit ist daher, dass die bislang betriebene Überwinterung und Auswilderung der deutschen Igelstationen wie sie bisher die erprobte Praxis war, tatsächlich auch genau richtig gehandhabt wird und nur so ein Igel damit eine wirkliche Chance auf langfristiges Überleben hat.

Im übrigen wird einem kontrolliert überwinterten Igel i.d.R. auch keine Freiheit geraubt, da er im Normalfall die Zeit ja eh „verschläft“.

Studie im Original (englischer Text): https://link.springer.com/article/10.1007/s10344-018-1244-4

Artikel im Igel Bulletin von Pro-Igel: https://www.pro-igel.de/downloads/igel-bulletin/bulletin61.pdf

Seiteninfo

Veröffentlicht von: am 1. März 2022 @ 04:03 Uhr. Letzte Aktualisierung: 22. August 2022 @ 13:52 Uhr.
Kategorien: Allgemein.

2 Gedanken zu „Winter-Auswilderung — der entscheidende Irrtum

  1. Igel brauchen Winterspeck,
    und zum Schlaf ’nen stillen Fleck.
    Stören wir sie dabei nicht,
    in dem Sinne ein Gedicht.

    IGEL IM WINTER

    Kälter wird’s, die Nahrung knapp,
    das hält uns’re Igel auf Trab.
    Da hilft ein Snack ab und an
    von uns Menschen, denkt daran.

    Zum Ruhen eine Ecke
    mit Laub, zu diesem Zwecke;
    den stachligen Gesellen
    soll’s nicht an Wärme fehlen.

    Igel und Igelinnen
    brauchen Schlaf zur Winterzeit.
    Auch wir kuscheln uns drinnen,
    wenn es wieder stürmt und schneit.

    Tiere im Allgemeinen,
    die Großen und die Kleinen;
    sie liegen uns am Herzen,
    uns quälen ihre Schmerzen.

    Wenn Mitgeschöpfe leiden,
    ist nicht die Zeit für Freuden.
    Wer Tiere nicht kann lieben,
    ist selber Tier geblieben.

    Rainer Kirmse , Altenburg

    Herzliche Grüße aus Thüringen

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